1 Familiengeheimnisse

1.1 Loyalität

Die Loyalität (Boszormenyi- Nagy& Spark, 2006) stellt eine unabdingbare Haltung sowohl dem Opfer als auch den Bezugspersonen und dem gesamten System gegenüber dar. In Bezug auf die Erlebnisse eines sexuellen Missbrauchs stehen die Opfer im ständigen Loyalitätskonflikt zur Familie, vor allem, wenn der Täter eine nahe stehende, geliebte Person ist. Zu beachten ist, dass der Täter die Strategie des malignen Clinchs (Stierlin, 1992) benutzt, der bedeutet, dass Kinder unter dem Einfluss von entwertenden Strategien stehen und sich hilflos unter dem großen Schulddruck fühlen. Die folgende Beschreibung des Begriffes der Loyalität stammt von Boszormenyi–Nagy (2006), der den Begriff mit einer ethischen Form der Bindung beschreibt.

Loyalität lässt sich auf der Ebene eines Systems als die Erwartung der Einhaltung bestimmter Regeln verstehen, bei Missachtung drohen Sanktionen. Auf individueller Ebene hat die Person Erwartungen und Gebote loyal übernommenen und verinnerlicht, Loyalität ist die natürliche Bindung an die Herkunftsfamilie. Das Loyalitätskonzept versucht ethisch und moralisch die Bedürfnisse jedes Familienmitgliedes abzuwägen und zum jeweiligen Recht zu verhelfen. (Simon, Clement und Stierlin, 1999)

Wenn Kinder in einer Familie sexualisierte Partner sind, dann weist dies auf mangelnde Generations- und Ich-Abgrenzungen hin. Hier spricht man nicht von Geheimnissen, denn meist besteht ein Einverständnis in der Familie, dieses kann sich aber dem Bewußtsein auch teilweise entziehen. (Boszormenyi-Nagy& Spark, 2006)

Die Autoren gehen davon aus, dass ein Kind auf Grund unbewusster Loyalitätserwartung befürchtet, die Eltern könnten ebenfalls seelischen Schaden erleiden. So wird die Kooperationsbereitschaft des Kindes als fundamentale Loyalitätshandlung gesehen, um dem Erwachsenen zu helfen, sich eine gewisse Ich-Abgrenzung zu schaffen. Oft sind in Inzestfamilien mehrere Kinder, über Jahre und Generationen hinweg, betroffen. Komplikationen können sich in Familien dadurch ergeben, dass das reifer werdende Kind Widerstand leistet bzw. durch drohende Schwangerschaft.

1.1.1 Ambivalenz

Ritscher (2002) spricht von Behinderungsmacht, wenn es in Beziehungen zu dominantem Verhalten mittels Einschüchterung, Bedrohung und Feindseligkeit kommt; hier hat die professionelle Arbeit eine kompensatorische Aufgabe zu erfüllen. Um risikoverhindernde Maßnahmen zu treffen, greift der Professionist zum Schutz des Opfers ein und interveniert, berät und verhandelt Maßnahmen mit dem Ziel, die ohnehin schon expandierte Macht des Täters zu begrenzen.

Bei Gewalt in der Familie können rechtliche und faktische Maßnahmen nötig sein, um das Risiko durch den Täter auszuschließen. Unter Berücksichtigung eines familiendynamischen Blickwinkels ist das Schweigen von Opfern auf die destruktive Bindung an den Täter oder auf andere unsichtbare Loyalitätsbindungen zurückzuführen. Hier kann man davon ausgehen, dass diese auch in Schutzkontexten weiter wirken und die Schutzmaßnahmen für das Opfer z.B. bei einer Heimunterbringung als wirkungslos erscheinen. Damit verweist Ritscher auf die Notwendigkeit, bei Schutzmaßnahmen nicht nur den physischen Schutz der Person vor dem Täter, sondern auch die interpersonelle und intrapersonelle Problematik des Opfers als Risikofaktor zu bewerten, solange diese kommunikativ verborgen bleiben.

Otscheret (1988) beschreibt die Bedeutung des dialogischen Grundprinzips: den anderen in seiner Andersheit zu belassen. Werden jedoch in einer Beziehung hierarchische Strukturen durch ein Machtgefüge etabliert, wird das Grundprinzip des Dialogs verletzt. Widersprüche sind in einer Machtbeziehung im Zusammenhang mit Gewalt nicht möglich, im Dialog stellt die Möglichkeit eines Widerspruches jedoch eine Grundvoraussetzung dar. Macht hat eine ordnende Funktion, aus soziologischer Sicht hat Macht einen wertfreien, funktionalen Charakter. Die strukturelle Machtbeziehung (z.B. die Mutter- Kind Beziehung) ist eine vorgegebene Situation.

Die interaktionale Machtbeziehung muss sich konstituieren. Ein Machtbildungsprozess kann durch einen gemeinsamen Konsens, durch Autoritätswirkung oder durch Vergewaltigung zum Ausdruck kommen.

„Der Machtbildungsprozess ist eine Transformation von einer zu Beginn herrschenden Gleichheit, in der alle Beteiligten über den gleichen Status und über die gleichen Ressourcen verfügen, in einen Zustand der Ungleichheit“.
(Otscheret, 1988, S 118)

Entwicklungspsychologisch wird der strukturellen Machtbeziehung viel Aufmerksamkeit gewidmet, denn der Prozess des Aushandelns ist eine Gratwanderung zwischen Ohnmacht und Allmacht. Deshalb ist der Wille des Kindes, als dialogischer Widerspruch zu seiner Umwelt, zu akzeptieren. Hier braucht es eine bewusste Entscheidung, Grenzverhandlungen zu führen und die damit einhergehenden Konfliktspannungen auszuhalten. Eine pathologische Ambivalenz ergibt sich, wenn es diese Konfliktangebote für das Kind nicht gibt und es eine Existenz auf Basis von Gefügigkeit führen muss. Eine pathologische Ambivalenz erweist sich immer wieder als Grundbedingung für Machtmissbrauch.

Die Bedrohung eines Kindes mit der Isolation stellt das wichtigste Machtinstrument für den Täter dar. Hier kann zwischen der aktiven und der passiven Isolationsvermeidung des Opfers unterschieden werden. Die Furcht vor Isolation der Schwächeren wird durch die Stärkeren ausgenützt. (Otscheret, 1988)

„Aktive Isolationsvermeidung wird durch Manipulation von Abhängigen erreicht und passive Isolationsvermeidung durch hörige Auslieferung an die Mächtigen.“
(Richter 1977, zitiert nach Otscheret, 1988, S 124)

Die Systemtheorie begreift den Menschen und seine Handlungen in der Bedeutung, die er innerhalb seines Interaktionsfeldes (Familie, Arbeit, Freunde) mit seinem Verhalten hat. Die Beziehungen der einzelnen Mitglieder innerhalb eines Systems sind durch Interaktionen charakterisiert, wobei die Grenze zwischen den Subsystemen die Art der Kommunikation und die Rolle der Mitglieder bestimmt. Dieser Grenze wird die Aufgabe zugeschrieben, die Autonomie bzw. Bindung zu regulieren. Eine Grenze, die diese Bedingung erfüllt, nennt man eine klare Grenze, die außerdem die Differenzierung des Systems aufrechterhält. (Minuchin, 1981, zitiert nach Otscheret, 1988)

Minuchin beschreibt zwei Arten von negativer Grenzziehung: diffuse Grenzen und starre Grenzen.

„Ein System erfährt also dann eine Störung, wenn eine Seite der ambivalenten Grundspannung zwischen Kontinuität und Wandel überbetont wird.“
(Otscheret, 1988, S 23)

Stierlin möchte alle dialektischen Polaritäten (Augenblick-Dauer, Verschiedenheit- Gleichheit, Nähe-Distanz, u.a.) in jeder Beziehung zur Versöhnung bringen. (Stierlin, 1981, zitiert nach Otscheret, 1988)

Otscheret merkt jedoch an, dass anstatt Polaritäten zu versöhnen, diese erkannt und ausgehalten werden müssen.

Bauriedl (1984, zitiert nach Otscheret, 1988) führt ein Beziehungsmodell an, in dem die Begriffe Ambivalenz und Abwehr von Bedeutung sind: nicht die Ambivalenz ist pathologisch, sondern die Abspaltung eines der beiden Spannungspole von gut und böse - also zwischen zugelassenen Vorstellungen und verdrängten Kontrastvorstellungen. Übertragen auf die Beziehungsebene wären die unterschiedlichen Positionen und die vorhandene Spannung eine aufnehmende „ich und du“ Haltung, entgegen dazu ist in einer Beziehung, die die vorhandene Spannung abwehrt, „ich oder du“ die eingenommene Position. Die von Professionisten analytisch aufzugreifenden Stellen in Familien sind dort zu suchen, wo Trennungslinien und Kontaktlinien nicht zwischen den Personen, sondern durch die Personen verlaufen. (Bauriedl, 1984, zitiert nach Otscheret, 1988)

1.1.2 Beziehungsgestaltung

Bateson formuliert zwei Grundformen von Beziehungen und wie sich diese im Fall eines sexuellen Missbrauches zusammensetzen. Dadurch wird sehr gut veranschaulicht, warum Kinder nicht über ihr Geheimnis sprechen und wo die Ambivalenz der Gefühle der Opfer verankert ist. (Bateson, 1981, zitiert nach Luksch, 2006)

Folgende zwei Grundformen wurden von Bateson (1981) beschrieben:

  1. Symmetrische Beziehung bedeutet Gleichheit, wie z.B. bei Freunden, Tennispartnern, Schulkollegen, Sexualpartnern usw.
  2. Komplementäre Beziehung bedeutet Ungleichheit, wie z.B. Chef – Angestellter, Lehrer – Schüler, Arzt – Patient, Eltern – Kinder, usw.

Beim sexuellen Missbrauch verschmilzt die Beziehung der Ungleichheit mit einem Akt der Gleichheit. Das erzeugt bei den Opfern Verwirrung der Gefühle, der Beziehungsstrukturen, zu Ambivalenzen und Schuldgefühlen.

Kurz gesagt: die Verschmelzung der beiden Beziehungsformen führt zu psychischen Problemen. Nach Batesons entsteht beim sexuellen Missbrauch eine Doppelbindungskonstellation, die sich auf eine Situation bezieht, in der sich die betroffene Person (Opfer) in einer abhängigen Situation befindet, in der Anpassung geboten ist. Berechtigte Interessen und Grundbedürfnisse, die an die dominanten Bezugspersonen gerichtet sind, werden im Negativfall jedoch nicht angemessen befriedigt. Gegebenfalls werden die Bedürfnisse des Kindes mit Scheinalternativen, die man in der Praxis auch als Zwickmühle beschreiben könnte, beantwortet und so das Verlassen der Situation sehr erschwert.

Auf Grund einer dominanten Stellung der übergeordneten Ebene bestimmt diese weitestgehend die Rahmenbedingungen, an die sich die abhängige Person anpassen muss. Die Doppelbindungstheorie von Bateson (1981) betrachtet dabei (zunächst) zwei Ebenen. Ein dominantes Elternteil und das abhängige Kind. Eine dritte dem gegenüber übergeordnete Ebene, etwa gesellschaftliche Normen, Ideale, Idealbilder oder Ziele, der sich der dominante Sender der Doppelbindungs-Botschaft verpflichtet fühlt, bleibt bei dieser Betrachtung zunächst unberücksichtigt. Der Anpassungsdruck, der von der dominanten Person bzw. Ebene ausgeht, bestimmt weitgehend das Verhalten, Erleben und Lernen des Opfers in den vorgegebenen Rahmenbedingungen.

1.2 Tabuisierte Familiengeheimnisse

Themen, die tabu sind, gehen mit starken Angst- und Schuldgefühlen einher und dürfen nicht offen besprochen werden, es sind tabuisierte Familiengeheimnisse. Diese dienen der Vermeidung von Kränkungen und Konflikten in der Familie. (Simon, Clement & Stierlin, 1999)

Familiengeheimnisse stellen eine Form der gemeinsamen Verleugnung dar und sind (in Grenzen) funktional oder dysfunktional, wie diverse andere familiäre Problemlösungsstrategien ebenfalls. Die Funktion von Familiengeheimnissen kann positiv sein, da diese das Selbstwertgefühl der Mitglieder schützten. Problematisch werden die Familiengeheimnisse dann, wenn diese das Vertrauen untergraben und den Dialog verhindern. In der Folge ergibt sich eine Wirklichkeitskonstruktion, die dazu führt, dass die Familie ihre Anpassungs- und Entwicklungsmöglichkeit einbüßt.

Auch für die mit den Familiengeheimnissen in Beziehung stehenden Familienmythen gilt, dass die damit einhergehenden Schutz- und Abwehrfunktionen der Familie bzw. Familienmitglieder gewürdigt werden sollen, um eine direkte Konfrontation vorerst zu vermeiden. Die Autoren raten weder dazu, das Geheimnis zu knacken, noch das Geheimnis als Widerstand zu betrachten, das die Therapie behindert. Vielmehr werden mit der Methode des zirkulären Fragens, unter Respektierung der Geheimhaltung des Inhaltes, die Befürchtungen der Familienmitglieder vorweg geklärt.

„Auf diese Weise lässt sich auf der Beziehungsebene verdeutlichen, welche Funktion die Aufrechterhaltung des Familiengeheimnisses hat und welche Veränderungen durch seine Offenlegung befürchtet werden. Damit wird in der Regel auch die Notwendigkeit zur weiteren Geheimhaltung hinfällig.“
(Simon et al., (1999, S 89)

Für Kaiser (1998, zitiert nach Spitznagl ) sind Geheimhaltung und der Umgang mit Familiengeheimnissen, als familiale (Coping-) Strategie zur Gestaltung und Bewältigung des Zusammenlebens zu verstehen. Geheimhaltung wird dann dysfunktional, wenn sie als Strategie die familiale Dialogkultur stört oder untergräbt.

Für den therapeutischen Umgang rät der Autor dazu, dass Tabuthemen oder Familiengeheimnisse auf der Basis von Vertrauen angesprochen werden sollen (bisher Unausgesprochenes wird verbalisiert, um darüber ins Gespräch zu kommen). Es werden alle Beteiligten als „Lebenswelt- Experten“ zum Gespräch darüber eingeladen. Durch zirkuläre Fragestellungen können Angehörige viel voneinander erfahren, ohne jemanden von der Familie oder auch Beteiligte, die nicht zur Familie gehören (z.B. beteiligter Lehrer), auszuschließen.

Probleme können unentbehrlich werden, wenn sie in einem neuen, komplexen genographischen und Systemkontext gesehen werden, der auch historisch-politische Dimensionen inkludiert. So kann individuelle Schuld und Versagen verständlicher werden und versöhnliche Wirkung haben. (Kaiser, 1998, zitiert nach Spitznagl, 1998)

„Als Familiengeheimnis lässt sich eine Information verstehen, die aus bestimmten Gründen bzw. Zielsetzungen heraus (unter bestimmten Zeitperspektiven) Tabu ist, d.h. zurückgehalten/verschwiegen bzw. aktiv mittels Mythen oder Lügen verschleiert wird.“
(Kaiser, 1998, S 283)

1.2.1 Charakteristik von tabuisierten Familiengeheimnissen

Kaiser (1998) führt zahlreiche Unterscheidungen an um eine systematische Einteilung der Einflussfaktoren auf die Geheimhaltung zu treffen: die Funktion und Gründe der Geheimhaltung, nach der Art und Zahl der Ausgegrenzten und Eingeweihten in ein Geheimnis, eine zeitliche Perspektive, die Modalitäten im Umgang mit der Geheimhaltung.

Der Autor führt drei unterschiedliche Gründe für Geheimhaltung an, die sich auf bestimmte Informationen beziehen:

Es besteht eine familiale Verpflichtung, um Interessen oder Vorteile zu sichern (z.B.: Berufsgeheimnisse der Angehörigen, Testamente), bzw. um Nachteile zu vermeiden (z.B.: Krankheiten, destruktive transgenerationale Traditionen, Misshandlung).

Es besteht ein Recht auf Geheimhaltung, diese dient der Abgrenzung. Zum Schutz ihrer Intimsphäre billigt die Wertordnung der meisten Familien Individuen oder familialen Subsystemen zu, dass Informationen über bestimmte Aktivitäten verheimlicht werden dürfen.

Eine eigennützige „unberechtigte“ Geheimhaltung liegt dann vor, wenn Informationen, bei denen aus Familienloyalität oder sogar juristisch eine Offenbarungspflicht besteht. Hier geht die Geheimhaltung bei den Geheimhaltenden meist mit Schuldgefühlen einher, da es sich um das Verschweigen oder Verschleiern von Informationen handelt, um sich Verpflichtungen zu entziehen, Vorteile zu verschaffen, um Auseinandersetzungen zu vermeiden und aus Loyalitätskonflikten heraus. Geheimnisse können in Familien verschiedene Funktionen erfüllen, wie die Erzeugung von Nähe und Koalitionen (durch das Einweihen eines Angehörigen) oder Distanz (durch das gezielte Vorenthalten der Informationen vor einem Angehörigen).

Als Machtmittel spielen Geheimnisse eine Rolle, wenn Informationen gegen andere Ressourcen eingetauscht werden. Subjektive und familiale Bedeutungen und Ziele in Zusammenhang mit den normativen Modellvorstellungen über familiales Zusammenleben spielen eine Rolle bei der Geheimhaltung.

Diese familiale Wertordnung ist bei den einzelnen Familienmitgliedern mehr oder minder tief internalisiert und die Angehörigen fühlen sich dieser durch Loyalitätsbindungen verpflichtet. In der Folge kann dadurch eine Erhöhung des Gefühls der Zusammengehörigkeit (Kohäsion) erreicht werden. Bei Verletzung der gemeinsamen Regeln, Werte und Bewertungen wird das Zugehörigkeitsgefühl auf der individuellen bzw. auf der Systemebene verletzt (narzistische Problematik); dies geht mit starken Ängsten, drohenden Sanktionen und Konformitätsdruck einher. Wenn ein bedrohliches Ereignis nicht mehr zu verleugnen ist, wird das Mittel der Geheimhaltung gewählt - was als familiale Lösungsidee zur Begrenzung des Schadens zu sehen ist. (Kaiser, 1998)

Bei der Art und der Zahl der Ausgegrenzten und Eingeweihten in ein Geheimnis wird systematisch danach unterschieden vor wem und wie vielen Personen etwas verheimlicht bzw. nicht verheimlicht wird:

Individuelle Geheimnisse werden vor dem Rest der Familie geheim gehalten. Interpersonelle Geheimnisse von Angehörigen werden vor anderen Angehörigen bzw. zwischen familialen Subsystemen geheim gehalten. Geheimnisse der Familie werden vor Außenstehenden zum Zwecke der Abgrenzung geheim gehalten.

Bei der zeitlichen Perspektive ist der mit der Geheimhaltung verbundene Aufwand von Interesse. Die Einteilung wurde demnach in kurzfristige, mittel- und längerfristige (auch über Generationen andauernde) Geheimhaltung getroffen:

  • Die kurzfristige Geheimhaltung dient vor allem der Steuerung und positiven Beeinflussung von Stimmungen und Beziehungen und erfordert meist einen geringen Aufwand vom Geheimhaltenden (Geschenke, unerlaubtes pubertäres Rauchen).
  • Die mittel- und längerfristige Geheimhaltung wird zur Gestaltung oder Bewältigung zeitlich andauernder Konstellationen gewählt und bedarf mehr Aufwand seitens des Geheimhaltenden, vor allem, wenn das Geheimnis über Generationen hinweg geheim gehalten werden soll (schmachvolle Vorkommnisse).

Weitere Einflussfaktoren auf den Umgang mit Geheimnissen sind, neben den oben genannten Funktionen, Gründen und Inhalten der Geheimhaltung, der Art und Anzahl der Ausgegrenzten und Eingeweihten und der zeitlichen Perspektive, vier unterschiedliche Modalitäten des Umgangs mit der Geheimhaltung beschrieben:

  • Die subjektive Einschätzung des Geheimhaltenden bezüglich der eigentlichen Situation, der Angehörigen bezüglich ihrer Kompetenzen im Umgang mit dem Geheimnis (Dialogfähigkeit, ihrer Beziehungen, ihrer Loyalität) und der Natur des geheim zu haltenden Gegenstandes. Die Gefahr, sich in Familien zu verraten, ist, da sich die Familienmitglieder meist gut kennen, jedoch groß. Hier ist das Gewahrwerden von Veränderungen mit der Folge von Suchen und Forschen nach dem Grund verbunden. Darum gebraucht der Geheimnisträger Strategien der Tabuisierung, Verschleierung, Lügen, Mythenbildung. Hier werden Angehörige, die auf ein Geheimnis aufmerksam geworden sind, eingeschüchtert bzw. eingeweiht, um dann bei Strafe zur Verschwiegenheit verpflichtet zu werden.
  • Die objektive bzw. subjektiv wahrgenommene Schützbarkeit des Geheimnisses bezüglich der Möglichkeit, ob und wie bestimmte Informationen in der Familie geheim zu halten sind. Bedeutend für den Geheimhaltenden ist sein eigenes Kompetenzbewusstsein bzw. seine Zuversicht, dass er mit eigenen Mitteln das Geheimnis schützen kann. Eine längerfristige Geheimhaltung wird in der Familie jedoch manchmal vom Geheimhaltenden überschätzt, da sich auf Grund von Loyalitäten die Ab- und Ausgrenzungen nur vorübergehend aufrechterhalten lassen.
  • Das Ausmaß der Verständigung der in ein Geheimnis Eingeweihten in Bezug auf die Priorität und den zu treffenden Vorkehrungen zum Zwecke der Geheimhaltung. Falls diese Verständigung darüber nicht genügend passiert ist die Gefahr hoch, sich verdächtig zu machen oder sich zu verraten. Neben der Verhinderung der Geheimhaltung ist mangelnde Dialogkultur und Problemlösevermögen auch der Grund dafür, dass es zu geheim zu haltenden Problemen kommt.
  • Bei individuellen und kollektiven Abwehrmechanismen werden brisante Geheimnisinhalte auf Grund der Angst vergessen, verleugnet, beschönigt. Dadurch wird die Geheimhaltung von z.B. sexuellem Missbrauch eine mehr oder minder bewusste Folge der Abwehr: (mutmaßliche) Konsequenzen einer Offenbarung des Geheimnisses. Je nach Einschätzung der Folgen einer Aufdeckung (z.B. Bestrafung, Trennung, Gesichtsverlust, Machtverlust) variieren die Sicherheitsvorkehrungen oder Abwehrmechanismen der Geheimhaltenden und (mutmaßliche) Konsequenzen der Geheimhaltung für die Familie. Hier werden ebenfalls die Konsequenzen für einzelne Familienmitglieder in Betracht gezogen.

Kaiser (1998) differenziert zwischen unproblematischen und problematischen Konsequenzen von Familiengeheimnissen für einzele Personen und der ganzen Familie. Für die Familie sind die Auswirkungen abhängig davon, ob unbelastete Informationen regelmäßig und aus einer Haltung der Echtheit, der Wertschätzung und des Verständnisses füreinander geheim gehalten werden, oder ob es sich um regelwidrige Geheimhaltung oder die Geheimhaltung von regelwidrigem Verhalten handelt. Ersteres dient der familialen Funktionstüchtigkeit, wobei zweiteres dagegen mehr oder minder problemträchtig scheint, da diese Geheimnisse die Kommunikation innerhalb der Familie behindern und damit in der Konsequenz zu einem Klima der Unaufrichtigkeit führen.

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit werden Angehörige in Geheimnisse eingeweiht, dadurch entstehen maligne Triaden. Wird aus Loyalität einem anderen Familienmitglied dieses Geheimnis weitergegeben und es wird offenbar, dann sieht das der Geheimhaltende als Verrat und fühlt sich in seinen Loyalitätserwartungen enttäuscht. (Teil)offene Familiengeheimnisse nennt man jene, wo die Information nicht vollständig geheim ist, sondern sie wird diskret behandelt. In der Konsequenz führen sie oft zu komplexen Folgeproblemen.

Bei bösen Geheimnissen (z.B. sexuellem Missbrauch) werden gegenüber Angehörigen (z.B. Kindern) Drohungen ausgesprochen (z.B. wenn man es nicht streng geheim hält, passiert ein großes Unglück), wodurch sich das Problem des Kindes durch die Geheimhaltung verschlimmert.

„Das Opfer bleibt alleine und gerät immer mehr in die Isolation. Es ist meist sogar gezwungen, sich in seinem gesamten Ausdrucksverhalten zu verstellen, damit ihm seine Bedrückung nicht anzumerken ist.“
(Kaiser, 1998, S 293)

Für Ritscher (2002) sind Geheimnisse und Tabus mit Schuld- und Schamgefühlen belegt, tabuisierte Familiengeheimnisse werden durch unterschiedliche Affekte charakterisiert. Bei Tabus geht es um Themen, die Scham, Ekel und Angst hervorrufen, wie z.B. Sexualität, Tod, Krankheiten, Geld oder sozial auffällige Handlungen von Familienmitgliedern. Dafür sind keine oder nur unzureichende Bewältigungsmöglichkeiten vorhanden. Gefühle der Schuld und der Scham entstehen nach Freud (1969, zitiert nach Ritscher, 2002) durch die interpersonelle Verletzung gesellschaftlicher Normen, Werte, Regeln, Verbote und den Rollenvorschriften sowie durch die intrapsychische Aktivierung der wichtigen Bezugspersonen, die das eigene Tun missbilligen, in den inneren Bildern. Dadurch werden die Missachtung von Tabus und der Verrat von Geheimnissen letztlich Fragen des Gewissens. Im internalisierten intrapsychischen Ort werden Denken, Fühlen und Handeln begutachtet und bewertet.

Ritscher beschreibt tabuisierte Familiengeheimnisse, die mit Scham- und Schuldgefühlen in der Familie einhergehen, folgendermaßen: Familien belegen bestimmte Themen mit Tabus, somit ist die öffentliche Benennung, die sprachliche Umsetzung des Themas, nicht erlaubt.

Die zentrale Regel für bestimmte Ereignisse in Familien lautet: „Du sollst nicht merken und nicht wissen.“ (Ritscher, 2002, S 153)

Das schwierige an den Tabus ist, dass alle davon wissen, sie aber niemand ansprechen darf. Gedanken daran, die das Tabu begleiten, nehmen viel Raum in der Familie ein. Wie kann die Nennung des Wortes verhindert werden, was tun, wenn es nicht gelingt, welche Strafe droht, wenn das Tabu gebrochen wird? Sprachlich verboten sind auch mit dem Tabu verwandte Themen, da sie in der Assoziation zum Tabu führen und dieses aufdecken könnten. Das Dilemma über das Tabuthema Bescheid zu wissen, aber nicht darüber reden zu dürfen, führt häufig auch zum Abbruch von sozialen Kontakten außerhalb der Familie.

Der Tabubegriff entstammt der Sprache Polynesiens und bedeutet unberührbar, verboten und heilig.

Ein konstruktives Beispiel für ein Familientabu stellt das Inzesttabu dar, hier liegt das Tabu auf der sexuellen Handlung. Durch das Verbot der sexuellen Intimität zwischen Eltern und Kindern erhalten die Kinder einen Schutzraum für die langsame Annäherung an das Lebensthema Sexualität.

„Das Tabu kompensiert das Machtungleichgewicht, durch welches ein erwachsenes Familienmitglied sexuelle Kontakte mit dem schwächeren Kind erzwingen könnte, und wirkt deshalb entwicklungsfördernd.“
(Ritscher, 2002, S 153)

Die Dynamik der Familie bei Geheimnissen ist eine andere als bei den Tabus, da bestimmte Ereignisse von bestimmten Familienmitgliedern oder Außenstehenden nicht gewusst werden. Die gesamte Familieninteraktion ist von der Geheimhaltung betroffen und wird von der Last des Schweigens niedergedrückt. (Bar-On 1993, zitiert nach Ritscher, 2002) Familientabus und Geheimnisse werden erforderlich, wenn Themen mit extremen Schamgefühlen verknüpft sind.

Schuldgefühle entstehen, wenn das Tabu und die Geheimnisse nicht bewahrt werden bzw. wenn die Geheimhaltung nicht aufrechterhalten werden konnte. Im Falle des Bruchs schwerwiegender Tabus bzw. Aufdeckung von Geheimnissen verweigern die „HüterInnen“ meist eine Wiedergutmachung bzw. Entschuldigung, da sie dies als Verrat definieren.

„Da Entschuldigungen und Wiedergutmachungen nicht angenommen werden, können diese nicht in eine konkrete Verfehlung umgewandelt werden und bleiben somit unabgeschlossene Inhalte“.
(Ritscher, 2002, S 154)

Chu (2005) weist darauf hin, dass, bevor ein Familiengeheimnis preisgegeben wird, ein Prozess der Entschleierung beginnt, der die Berücksichtigung der Person und die Orientierung aller vom Geheimnis Betroffenen erfordert. Als zeitliche Orientierung wird beim Thema Geheimhaltungsdruck durch Bedrohung vorgeschlagen, zuerst den Schutz herzustellen, bevor das Geheimnis gelüftet wird und sich interdisziplinäre Hilfe zu organisieren.

Welche Faktoren im Umgang mit einem Geheimnis für den Betroffenen zu berücksichtigen sind, listet Chu (2005, S 164) mit folgenden Fragestellungen auf:

  • Wer ist der Hauptbetroffene des Geheimnisses? Wie betrifft es andere Familienmitglieder? Ist es das eigene Geheimnis?
  • Welche Familienmitglieder sind in das Geheimnis eingeschlossen, welche sind ausgeschlossen? Warum?
  • Aus welchen Motiven ist das Geheimnis entstanden? Aus Angst, Scham, Schuldgefühlen (zum Beispiel, um jemanden zu schützen?)
  • Dient das Geheimnis dem Schutz eines Täters oder dem Schutz des Opfers?
  • Werden ich oder ein anderes Familienmitglied eingeschüchtert oder bedroht, damit wir das Geheimnis für uns behalten?
  • Ist das Ansehen der Familie oder die Familienehre betroffen? Oder nur das Ansehen eines Einzelnen?
  • Ist das Geheimnis zeitlich begrenzt? Unter welche Bedingungen hat oder hatte das Geheimnis einen Sinn?
  • Welche Gefühle löst die Geheimhaltung bei mir und anderen Geheimnisträgern aus?
  • Wie schwerwiegend ist das Geheimnis?
  • Aus welchen Motiven möchte ich das Geheimnis lüften?
  • Wie würden die Familienmitglieder auf die Wahrheit reagieren?
  • Wie würde die Gesellschaft, in der die Familie lebt, auf die Wahrheit reagieren?
  • Welche und wie würden Beziehungen sich nach der Lüftung des Geheimnisses ändern?
  • Wie bereite ich mich und andere auf die Eröffnung eines Geheimnisses vor?
  • Mit welcher Nacharbeit ist nach Eröffnung des Geheimnisses zu rechnen?

Eine Bedrohung oder Einschüchterung bedeutet, dass ein Machtverhältnis besteht, vor dem vorerst Schutz hergestellt werden muss, bevor ein Geheimnis offen gelegt wird - demnach verweist er auf Unterstützer, die die finanzielle und emotionale Abhängigkeit vorerst bearbeiten. Da jedoch meist eine Rollenumkehr von Täter und Opfer stattfindet, sieht das Kind die Verantwortung darin, den Täter zu schützen, sucht die Schuld bei sich und entschuldigt den Missbrauch. Weiter steht für Chu fest, dass Missbrauch immer im Zusammenhang mit einem ungleichen Machtverhältnis steht, dieses stellt die wichtigste Ursache bei der Entstehung von Schamgefühlen dar. In einer von vier Thesen verweist er auf die individualisierte Scham, die tabuisierte gesellschaftliche Konflikte ausdrückt. (Chu, 2005)

Die Autoren Van Manen und Levering (2000) reflektieren philosophisch über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Geheimnissen und verweisen auf die Wichtigkeit der damit verbundenen relationalen Erfahrungen.

Zusammenfassung

Um einen Teil meiner Fragen aus dem Vorwort zu beantworten (A: Wie kann zum Schutz vor Gewalt interveniert werden, solange das emotionale Problem des Kindes noch geheim ist? Was ist das emotionale Problem des Kindes und wie kann es für die Schutzintervention entschlüsselt werden?) wird es auf Grund des diffizilen Charakters des zu behandelnden Problems notwendig, den Fokus systematisch auf die unterschiedlichen Ebenen zu richten.  Damit können inhaltliche Aspekte für die Handlungsperspektive des Professionisten differenziert werden.

Der Fokus des Professionisten liegt auf dem Blick „unter die Oberfläche“ der gefährdeten Person um den Zweck der Geheimhaltung in einem gemeinsamen Familiengespräch aufzufinden:

  • Personen aus der Familie benötigen Hilfe bei der Bewältigung der belastenden Scham- und Schuldgefühle (meist sind alle Personen damit belastet).
  • Der Fokus der Hilfeleistung durch Intervention liegt auf der Entwicklung des Kindes: solange die Mittel der Geheimhaltung aufrecht erhalten bleiben, bleibt der Geheimnisinhalt verborgen und tabuisierte Informationen weiterhin bestehen.

Tabuisierte Familiengeheimnisse können auch als schamgebundene Geheimnisse benannt werden, da diese als Intimitätsgrenzen übersteigende Erfahrungen psychische und physische Krankheiten entstehen lassen. Die damit bisher erworbenen Erfahrungen des Kindes auf der Beziehungsebene, welche wichtigen Beziehungen gibt es in der Familie, werden aufgegriffen um eine anschlussfähige und sinnstiftende Kommunikation zu führen. Unbemerkte Scham- und Schuldgefühle von Personen bleiben unabgeschlossene emotionale Thematiken und zeigen sich in schweren Krankheitsbildern. Dies stellt die Motivation dar für Kinder und deren Familien gesundheitspräventive Projekte zu konzipieren.

Die Familie ist meist am Entscheidungsprozess des Mitteilens eines Geheimnisses beteiligt und gilt deshalb als relevante Umwelt des Kindes und auch als Zielgruppe in der strategischen Gewaltprävention. Der Fokus der Hilfeleistung durch Schutzintervention liegt auf einer beeinträchtigten Entwicklung des Wohl des Kindes durch konkrete Gründe. Der Möglichkeit der Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung durch Gewalt würde vorausgehen, dass das Kind das Geheimnis schon gelüftet hat.

Die Ziele des Familiengespräches sind:

  • die assoziierte Erzählung des Kindes über den konkreten Machtmissbrauch in der Familie
  • und die Identitätserhaltung der Familie, trotz der Aufforderung zur Veränderung zum Wohle des Kindes.

Im folgenden Kapitel gehe ich auf die vor der Erzählung einhergehenden Gefühle und auf die affektive Erfahrung bei der Erzählung näher ein (siehe Zusammenfassung im Kapitel 2.2.2).

Gefühle