4 Gewaltprävention
4.1 Das dialogische Denken
Von großer Wichtigkeit ist die Kennzeichnung der Gewalt, denn das gibt dem Sprechen und Handeln unter Menschen den zentralen Wert zurück. Das Gegenteil von Gewalt ist nicht nur die Gewaltfreiheit, sondern stellt die Freiheit dar, die der Verständigung von Menschen dient. Laut Thürmer-Rohr (2005) definiert sich die Gewalt nicht nur über die einzelnen Gewalttaten und –täter, sondern ebenso über ihren Kontext, ihre Unterstützung und Duldung, diese ist gleichbedeutend mit der Stärkung des monologischen Prinzips. Im Dialog braucht es eine eigene Meinung, um eine eigene Positionierung festzulegen und um identifizierbar zu sein.
„Der Dialog braucht das Wagnis, sich als Träger/in von Meinungen zum Vorschein zu bringen und den Mut, die Person mitsprechen zu lassen“.
(Arendt, 1992, zitiert nach Thürmer- Rohr, 2005, S 20)
Thürmer-Rohr (2005) sieht das dialogische Denken in der Auseinandersetzung mit Gewalt als Ausgangsbasis für die Gewaltprävention. Der Zusammenhang zwischen der Dialogfrage und ihrem Verhältnis zur Gewalt besteht darin, dass ein monologisches Prinzip Gewalt ausübt. Im Gegensatz dazu ist die Pluralität von Wahrnehmungen und Wahrheiten zu erhalten und wirkt gewaltpräventiv. Hier ist also das dialogische Prinzip, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen, eine Grundhaltung.
Dialog ist die Überzeugung, dass das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen, Menschen und Nationen einer Haltung bedarf, die vorsichtig mit den Unterschieden und den Kontroversen verfährt und die sich mit Schäden auseinandersetzt, die Gewalt anrichten. Jedoch ist der Dialog keine Friedensregel, keine Konfliktstrategie, sondern die Entscheidung zum Interesse an dem Anderen, das Gewalt ausschließt.
„Der Dialog gibt im Sprechen und Denken den Unterschieden zwischen Menschen, Wert und Bedeutung.“
(Thürmer-Rohr, 2005, S 15)
4.2 Beispiele für Gewaltprävention
Prävention lässt sich, auf Grund der hohen Komplexität, auf Vereinfachungen ein um handlungsfähig zu sein. Dadurch, dass der Präventionserfolg von einer großen Anzahl von Faktoren, die die zu verhindernden Probleme (mit)verursachen abhängt, muss in der Praxis nach Wegen gesucht werden, die Wahrscheinlichkeiten für Veränderungen zu erfassen und aufzuzeigen. (Hafen, 2007)
4.2.1 Der geschlechtsspezifische Ansatz
Die Evaluierung der Präventionsmaßnahmen im Feld der sozialen Arbeit beschreibt Wanninger als schwierig, da diese Prozesse gestalten sollen, die sich nicht direkt gestalten lassen und dass diese zu einem Zeitpunkt ansetzen, wo noch keine Probleme sichtbar sind. Um die Wirkung von präventiven Maßnahmen zu überprüfen, müssen diese zu ermittelnden Kriterien erarbeitet werden. Folglich wird vorgeschlagen, dass im Bereich der Primärprävention einfache Programme komplexen Programminhalten vorgezogen werden sollen. Die Studie von Kindler (2003, zitiert nach Wanninger, 2008) besagt, dass Präventionsprojekte auch Disclosure Prozesse (die Enthüllung der Geheimnisinhalte) anstoßen.
Der Begriff Kriminalprävention oder Gewaltprävention meint die Verhütung von Straftaten. Gewaltpräventionsmaßnahmen können an verschiedene Adressaten (Opfer oder Täter) ausgerichtet sein. Wanninger (2008) sieht diverse Präventionskonzepte maßgeblich durch Definitionen und Theorien zur Entstehung von Gewalt beeinflusst. In der Zusammenfassung ihrer Studienergebnisse „Mädchen und Gewalt“ und die Wirkung von Präventionskonzepten, nennt sie Aggression dem Gewaltbegriff übergeordnet. Aggression ist eine Bewältigungsstrategie, die sich in unterschiedlichen Formen ausdrücken kann; Gewalt kann verschiedene Formen von Aggression ausdrücken. Die ihrer Studie zugrunde liegende Definition von Hagemann- White (1991, zitiert nach Wanninger, 2008) besagt, dass Gewalt als eine Handlung, die auf die körperliche und seelische Integrität des Opfers abzielt und in einem Zusammenhang mit dem Geschlecht steht, zu sehen ist.
Die Begriffe Prävention und Intervention unterscheiden sich dadurch, als dass sich Intervention auf die Bearbeitung von bereits eingetretenen Störungen richtet. Bezogen auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen thematisiert die primäre Prävention, deren Aufgabe es ist, am Abbau von gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt anzusetzen, die Unterordnung der Frau. Sekundäre Prävention ist gleichzusetzen mit abstellender Prävention. Hier liegt die Aufgabe darin, betroffenen Kindern zu helfen. Tertiäre Prävention, auch aufarbeitende Prävention, befasst sich einerseits mit der Verhütung weiterer Gewalt und andererseits damit, das Ausmaß der Schädigung eines Kindes (z.B. durch Aufarbeitung der Gewalt) zu verringern.
Weiters differenziert Wanninger Präventionsmaßnahmen nach Risiko- oder Schutzorientierung, indem diese an der Verminderung der Risikofaktoren oder dem Ausbau von Schutzmechanismen ansetzen. Als Ziel geschlechtsspezifischer Gewaltprävention für Frauen nennt Wanninger die Reduzierung der Kriminalitätsfurcht einerseits und andererseits die Stärkung eigener Fähigkeiten (z.B. durch Selbstverteidigungskurse).
4.2.2 Aggression, Gewalt, Schulgewalt und Bullying
Von Interesse für die Forschung hinsichtlich der Prävention und Intervention sind Gewaltsituationen unter Schülern, wobei Opfer, Täter und das soziale Umfeld im Fokus der Betrachtung stehen. Aufgrund der Häufigkeit und der damit einhergehenden negativen Folgen von Gewalt im Schulalltag, gilt für Salmivalli (1996), dass sich Präventions- und Interventionsmaßnahmen an die ganze Gruppe richten sollen, um die Opfer zu schützen.
Im Fokus der nachfolgenden beschriebenen Gewaltform steht das zivilcouragierte Handeln bzw. die Hilfesuche. Von Huberty und Steffgen (2008) wurde im Zusammenhang mit Watzlawicks Kommunikationsaxiom, dass man nicht nicht kommunizieren kann, Prädikatoren untersucht, die Hilfehandlungen fördern, um diese für Präventionsprogramme nützen zu können. Die Autoren bezeichnen in ihrer Arbeit mit Bullying Gewaltphänomene im schulischen Kontext, wobei Übergriffe von einzelnen Schülern als auch von Schülergruppen begangen werden.
Der Begriff Mobbing soll nach Pikas (1989, zitiert nach Huberty und Steffgen, 2008) ausschließlich für Gewaltanwendungen, die von ganzen Tätergruppen ausgeführt werden, Verwendung finden.
Die Autoren nennen fünf Aspekte des Bullyings, basierend auf der Definition von Olweus (1997, 2008):
- Intentionales, aggressives Verhalten: Das aggressive Verhalten muss vom Opfer als verletzend empfunden werden und soll sich von Spielen, die mit aggressiven Handlungen einhergehen können, unterscheiden.
- Asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen Täter und Opfer: In der Beziehung zwischen Angreifer und Opfer besteht ein ungleiches Kräfte- und Machtverhältnis; dieses kann sich auf physische, kognitive als auch soziale Faktoren beziehen. Hier wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass eine typische Schlägerei, deren Ziel es ist Kräfte zu messen, abzugrenzen ist.
- Systematische Wiederholung über einen längeren Zeitraum: Bullying passiert systematisch, indem Opfer, einmal ausgesucht, über längeren Zeitraum regelmäßig schikaniert werden. Hier geht es nicht um einzelne Gewalthandlungen im Kontext der Schule.
- Unterschiedliche Erscheinungsformen: Es wird mittelbar (direkt physische und verbale) und unmittelbar bzw. relational (auf der Beziehungsebene werden Personen ausgeschlossen) Gewalt angewendet.
- Eingeschränkte Möglichkeiten des Opfers, sich dem Bullying Kontext zu entziehen: Schule stellt eine starre Struktur dar, da Schüler in die Schule gehen müssen (keine Fluchtmöglichkeiten) und eine festgelegte Rollenbildung entsteht.
In diesem Zusammenhang wird von einem Zustand des Ausgeliefertseins gesprochen, die eigenen Handlungsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Die Typologie von Bullying Situationen entwickelte sich von der Betrachtung als komplementärer Zweierbeziehung (Watzlawick, Beavin & Jackson, 1993, zitiert nach Huberty und Steffgen 2008) zu einem originär kollektiven Prozess (Schäfer und Korn, 2001, zitiert nach Huberty und Steffgen 2008). Durch den Umstand, dass sich Opfergruppen ebenfalls in ihrem Verhalten unterscheiden (z.B. passiv oder provokativ), werden in der aktuellen Forschung drei Typologien beschrieben (Bullies, Victims und Bully/Victims).
Salmivalli (1996) beschreibt die systemische Perspektive des Bullying- Prozesses insofern, als dass auch den nicht direkt involvierten Personen Rollen zugeschrieben werden, da jeder Einzelne durch sein Verhalten auch die Dauer und den Verlauf mitbestimmt. Erweitert wird dieses Konzept noch dadurch, dass auch Personen, die das Geschehen nicht direkt beobachten, einen Teil des Bullying-Prozesses darstellen. (Sanders, 2004, zitiert nach Huberty und Steffgen, 2008)
Zivilcourage wird als prosoziales Verhalten (Hilfeleistung) gesehen, die immer mit dem Risiko von negativen Konsequenzen für den Helfer einhergeht. Basierend auf Überzeugungen der Grundrechte der Menschen und Werten (z.B. Gerechtigkeitsempfinden), kann eine Hilfesituation mit einem Normbruch zu Gunsten eines Normschutzes (Jonas & Brandstätter, 2004, zitiert nach Huberty und Steffgen, 2008) einhergehen. Die Ergebnisse der Studie ergeben, dass Schüler Hilfeleistungen in Form von Hilfesuche der aktiven Hilfeintervention Vorrang geben. Die Notlage des Opfers wird eingeschätzt oder die beobachtete Normverletzung wird zur Beurteilung herangezogen. Dadurch kommen weniger Bedenken an der Richtigkeit des eigenen Handelns auf
Die Förderung von Zivilcourage bei Schülern als Präventionsstrategie birgt ein hohes Potential in sich, da diese sich an eine deutlich größere Zielgruppe richtet, als z.B. sanktionierende Maßnahmen gegen Täter. Ebenfalls wird der Nachhaltigkeit dieses Präventionsansatzes durch den Umstand, dass das Zeigen von Zivilcourage durch Verteidigen der Opfer (defender) ein hohes Ansehen genießt, attestiert. (Huberty und Steffgen, 2008)
4.2.3 Strategische Prävention
In meinem Manual für die Arbeit in Kinderschutzzentren wird das Wohl des Kindes als Grundlage für Kooperationen von unterschiedlichen Institutionen bezeichnet. (Luksch, 2006) Als Beispiel für eine strategische Präventionsmaßnahme für Erwachsene wird im Manual der Leitfaden für wirksames berufliches Handeln für Sensor, Melder, Akteur und Spezialist, beschrieben. (De Waal und Thoma, 2000)
Die Autoren differenzieren zwischen diversen Positionen von Professionisten, die sich gegenseitig bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch mit unterschiedlichen Mitteln für das Kindeswohl einsetzten. Die Kooperation wird wie folgt dargestellt: Der Sensor wird über seine Besorgnis zum Melder und dieser wiederum aktiviert die Akteure. Alle können spezielle Unterstützer bzw. Spezialisten für die Reflexion des nächsten Schrittes beiziehen. Um die Aufgaben der verschiedenen Positionen zu differenzieren, werden sie einzeln genauer betrachtet:
Ein Sensor für ein Kind kann grundsätzlich jeder sein, der eine Wahrnehmung eines veränderten Verhaltens über einen Zeitabschnitt beobachtet. Zuerst stellt dies eine Information darüber dar, worauf der Sensor aufmerksam wurde und was ihn alarmiert hat, diese Aufmerksamkeit auch aufrecht zu erhalten. Der Sensor hat bei einem Verdacht auf Missbrauch, wie z.B. sexualisiertes Verhalten, besorgniserregende Zeichnungen oder Spielverhalten, Zurückgezogenheit etc., folgende Fragen zu stellen:
- Ist der Verdacht eine Beobachtung oder eine eigene Befürchtung? Geht es um eine konkrete, relevante Wahrnehmung des Kindesverhaltens, die eine Problemklärung verlangt oder ist es eine persönliche Vermutung?
- Fällt diese Abklärung in den eigenen Kompetenzbereich und stehen die Mittel der Problemklärung zur Verfügung oder muss die Information an den Akteur bzw. Spezialisten weitergeleitet werden?
Ein Melder ist jener Professionist, die einen konkreten Verdacht explizit formuliert und zielgerichtet, wenn möglich empfängerorientiert (z.B. Mitteilung JWG§ 37), weiterleitet. In diesem Fall geht es um eine Beobachtung eines Problems, welche keine plausible Alternativhypothese als den konkreten Verdacht einer Kindeswohlgefährdung zufriedenstellend zulässt. Unter einer Alternativhypothese verstehen De Waal und Thoma (2000, zitiert nach Luksch, 2006) eine einleuchtende alternative Erklärung für das Problem des Kindes, die mit der glaubwürdigsten und nahestehendsten Bezugsperson aus der Familie beleuchtet und diskutiert wurde. Ein konkreter Verdacht wird im nächsten Schritt unmissverständlich weitergeleitet.
Beziehen sich spezifische Hinweise auf einen Täter, wie z.B. Videos usw. und ist der Täter bekannt, dann erfolgt die verpflichtende Weiterleitung an die Polizei oder Staatsanwaltschaft. Diese Akteure sind für die Verfolgung des Täters und der Beurteilung bzw. der Feststellung der entsprechenden Beweislage verantwortlich.
Ist jedoch das Opfer bekannt, dann erfolgt die Weiterleitung der Mitteilung an das Jugendamt zur Prüfung der Umstände sowie zur Schutz- und Hilfeleistung oder Organisation derselben. Die Autoren bezeichnen Akteure als gesetzlich zum Handeln in diesem Zusammenhang verpflichtet, das Jugendamt, die Exekutive oder das Gericht werden nach einer Mitteilung bzw. einer Anzeige aktiv.
Spezialisten sind Kinderschutzzentren, PsychologInnen, ÄrztInnen und SozialarbeiterInnen in Kinderschutzgruppen, die zur Unterstützung der Akteure bei der Prüfung des Missbrauchverdachts und der Organisation des Opferschutzes und der Hilfe für die Betroffenen beigezogen werden.
Wichtig ist die Differenzierung zwischen vagem und konkretem Verdacht und der Unterscheidung, ob sich vorliegende Hinweise auf einen Täter oder auf das Opfer beziehen.
4.3 Kritik an der Gewaltprävention
Deegener (1998) beschreibt punktuelle Inhalte von Präventionsprogrammen, um Kindesmissbrauch vorzubeugen. Diese sind vor allem auf die Zielgruppe von Kindern ausgerichtet und beinhalten bestimmte Lerninhalte:
- Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper
- Unterscheidung zwischen guten und schlechten Berührungen
- Umgang mit Geheimnissen
- Vertrauen in die eigenen Gefühle und Bewertungen, Gefühlswahrnehmung
- Recht auf Nein-Sagen und sich wehren
- Informationen über Personen und Institutionen, die Unterstützung anbieten
Über die Wirksamkeit dieser Präventionsprogramme äußert sich der Autor folgendermaßen: die Senkung der Häufigkeit eines Missbrauches nach Präventionsprogrammen ist unsicher, relativ sicher kann man sagen, dass Kinder im Anschluss an Programme häufig über einen sexuellen Missbrauch berichten können. (Deegener, 1998)
Die Untersuchungsergebnisse von Ritter& Koch (1995) ergeben, dass befragte Personen hinsichtlich hilfreicher Prävention auf Formen der traditionellen Vorbeugung wie Drohungen vor dem fremden Mann und Schuldzuweisungen an neugierige und leichtsinnige Mädchen nicht reflektieren. In einem solchen Ansatz wird mit der Angst der Kinder operiert.
„Die Außenwelt gerät zu einer bedrohlichen Größe und verweist Kinder in den vermeintlich schützenden Schoß der Familie und Mädchen insbesondere in den Schutz männlicher Familienmitglieder - dorthin, wo die Gefahr am meisten droht. Letztendlich werden hier bei den Mädchen (und Jungen) Haltungen und Abhängigkeiten gefördert, die sexuelle Gewalt erst ermöglichen.“
(Ritter& Koch, 1995, S 462)
Vielmehr fordern die Befragten neben einer Veränderung der Erziehungshaltung in Richtung Selbstbestimmung, die Einhaltung der Rechte der Kinder und die Verbesserung von Anlauf- und Hilfsangeboten für Betroffene von sexuellem Missbrauch als primäre Präventionsmaßnahmen.
Als Ergebnis im sekundären Präventionsbereich werden Veränderungen genannt, die zwei Gruppen von Erwachsenen betreffen. Zum einen sind es potentielle HelferInnen im privaten sozialen Umfeld, zum anderen die professionellen HelferInnen. Die Befragten sehen die Möglichkeit von Hilfe darin, dass in der Umgebung der Kinder ein Erwachsener auf deren Signale aufmerksam wird, um in der Folge den Schutz vor weiterer Gewalt herzustellen zu können. Hier wird auf das Defizit von Elternbildung hingewiesen, da Handlungskompetenzen fehlen.
Einhergehen soll diese Elternarbeit auch mit institutioneller Hilfe im schulischen Bereich, ausgestattet mit Interventionskompetenz, da auch hier die Autorinnen bisher ein Defizit im pädagogischen Ausbildungsbereich sehen. Diese sollen von professionellen Stellen unterstützt werden, um ein angemessenes soziales Netz für Betroffene in der Akutsituation zu schaffen.
Für die tertiäre Prävention sehen die Befragten und die Autorinnen der Studie rechtliche Maßnahmen als notwendig, um den Schutz im innerfamiliären Nahraum der Kinder zu sichern.
„Eine im Falle intrafamilialen sexuellen Missbrauchs frühzeitige Trennung von Täter und Opfer unter der gleichzeitigen Voraussetzung, dass die Mutter parteilich für das Kind ist, gewährleistet, dass dem Mädchen die übrigen sozialen Bezüge weitestgehend erhalten bleiben, und trägt wesentlich zur Verarbeitung der erlittenen Gewalt bei. Sie vermeidet damit viele Sekundärschädigungen, die durch die bisher meist übliche Fremdunterbringung der Mädchen kaum zu verhindern ist.“
(Ritter& Koch, 1995, S 467)
Abschließend bezeichnen die Autorinnen die Einsamkeit der Kinder als ein Thema von übergreifender Relevanz, denn die Betroffenen geben immer wieder an, welche zentrale Bedeutung anderen Menschen zukommt. Die Befragten fühlen sich durch das Geheimnis sehr isoliert.
Da Burger (2007) ausreichend die bestehenden Sexualpräventionsseminare untersucht hat, beziehe ich mich auf die Zusammenfassung ihrer Ergebnisse. Grundsätzlich sagt Burger, dass Präventionsarbeit nicht nur - wie in den vergangenen Jahren vorrangig gesehen - am potentiellen Opfer ansetzen sollte, sondern eine vielschichtigere Herangehensweise der Problematik eher gerecht werden würde. Notwendig dazu wäre es, alle Voraussetzungen zur Entstehung sexuellen Missbrauchs zu beachten und die Präventionsarbeit darauf abzustimmen.
Diese benötigen in der primären Präventionsarbeit Zeit für die Umsetzung. Burger (2007) sieht Programme als Gefahr, wenn das Kind das Gefühl bekommt, falsch reagiert zu haben und dadurch für den sexuellen Missbrauch selbst verantwortlich ist. Vor allem weist sie darauf hin, dass auch Kinder, die bereits Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sind und an Programmen teilnehmen, die Schuldgefühle, sie hätten sich eigentlich zur Wehr setzten müssen, noch verstärken. Sie kritisiert weiters, dass die Möglichkeit, nein zu sagen, für jüngere Kinder in Erziehungssituationen im Allgemeinen deutlich eingeschränkt erscheint. Präzisiert wird die entwicklungspsychologische Thematik insofern, als dass die Studie von Briggs (1991, zitiert nach Burger, 2007) ergab, dass Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren Erwachsene prinzipiell als Beschützer betrachten.
„Selbst nachdem sie die Information erhielten, dass Eltern ihre Kinder auch missbrauchen können, blieb die Sichtweise der Kinder bestehen“.
(Burger, 2007, S 42)
Ebenfalls wird im Empowerment-Modell übersehen, dass Kinder Erwachsenen gegenüber körperlich unterlegen sind und sich nicht wehren können. Eine Veränderung für die Prävention ergibt sich aus dem Vorschlag von Berrick und Gilbert (1991, zitiert nach Burger, 2007) vom Empowerment abzugehen und stattdessen ein Protection-Modell zu verfolgen, in dem für die Sicherheit der Kinder in erster Linie die Erwachsenen verantwortlich sind. (Berrick und Gilbert 1991, zitiert nach Burger, 2007)
Zum Thema Berührungen und Sexualität kritisiert Burger (2007), dass im Rahmen von Sexualprävention weder Geschlechtsteile noch sexuelle Handlungen konkret beim Namen genannt werden, obwohl versucht wird, dem Kind zu vermitteln, über den sexuellen Missbrauch zu sprechen. Dies könnte als doppeldeutige Botschaft verstanden werden. Ohne eindeutige Benennung können Kinder nicht verstehen, worum es geht. Krivacska (1990, zitiert nach Burger 2007) weist darauf hin, dass, wenn die konkrete Sprache über Sexualität fehlt, das eher am Bedürfnis der Erwachsenen orientiert sein könnte, als am Bedarf der Kinder. Wenn Kinder in der Sexualprävention als asexuelle Wesen begriffen werden, kann dies ein Scheitern des Ziels bedeuten. Ebenso kritisieren Finkelhor und Strapko (1992, zitiert nach Burger 2007) allgemein an vorliegenden Präventionsprogrammen eine negative Sichtweise von Berührungen und Sexualität. Weiters müssten auch Handlungen, die nicht mit Berührungen verbunden sind und die Ambivalenz der eigenen Gefühle hinsichtlich der Situation integriert werden.
Ein weiterer Kritikpunkt ist für Burger (2007), dass Kinder nicht auf subtile Strategien aufmerksam gemacht und über das Vorgehen der Täter in Missbrauchssituationen informiert werden; dass Täter oft auch die Bezugspersonen des Kindes sind und die dadurch entstehende Ambivalenzbeziehung als Thema für die Kinder zu kurz kommt. Die Strategie von TäterInnen kann auch beinhalten, dass diese Kinder real oder psychisch (z.B. durch Hinweise wie: ein Elternteil hätte sie nicht mehr lieb), von Personen trennen, die sie schützen könnten. Diese Strategie zur Geheimhaltung wird von den TäterInnen meist genau geplant; inkludiert sind auch schrittweise Berührungen, damit die Kinder schwer unterscheiden könnten ob eine anfänglich angenehme Berührung zu einem späteren Zeitpunkt zu einer unangenehmen Berührung wird. (Young, 1997, zitiert nach Burger, 2007)
Die Begründung von TäterInnen, warum eine bestimmte Handlung richtig sei und warum diese auch geheim gehalten werden müsse, stellt eine Strategie dar, die auf die Entwicklung der Kinder abzielt. Monaco und Gaier (1988, zitiert nach Burger, 2007) konnten aufzeigen, dass manche TäterInnen ihre Drohungen und Begründungen nach dem Entwicklungsstand des moralischen Urteilsvermögens eines Kindes ausrichten.
Zur Didaktik fasst Burger (2007) diverse Untersuchungsergebnisse in Bezug auf zwei Arten der Vermittlungsmethoden zusammen, wobei das partizipierende Modell (die persönlichen Erfahrungen der Opfer fließen in die Methodik ein) wirkungsvoller als das der symbolischen Darstellung ist.
Burger möchte die Erfahrung von Gewaltopfern in deren Rolle als Lebenensweltexperten in die Prävention einbringen, um so besser an den persönlichen Zielen und Ressourcen der Zielgruppen für Gewaltpräventionsprojekte anschließen zu können. Die Zielgruppen für derart konzipierte Präventionsmaßnahmen sind für die Autorin Erwachsene, Kinder (in ihrer Rolle als potentielle oder/und reale Opfer), Täter und Zeugen.
In der Festschrift, die zum 20 - jährigen Bestehen der Niederösterreichischen Kinder – und Jugend Anwaltschaft erschienen ist, wird auf die brisante Situation der Kinder als Geheimnisträger und auf deren Recht auf Schutz und Beistand durch den Staat eingegangen.
„Ein Verständnis für Kindeswohlgefährdung setzt ein kontextualistisches Verständnis der Erwachsenen voraus: Laut der UN- Studie über Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (2006) ist Gewalt gegen Kinder aus verschiedenen Gründen nach wie vor versteckt: aus Furcht, weil Täter häufig jene Menschen (Eltern, Familienmitglieder oder maßgebende Mitglieder der Gesellschaft) sind, die Kinder eigentlich beschützen sollen und weil Kinder oft keinen sicheren und vertrauenswürdigen Weg finden, darüber zu berichten.“
(Luksch, 2012, S 97)
In meinem Beitrag weise ich auf notwendige Differenzierungsprozesse der Mehr-Ebenen-Gewaltpräventionsprojekte hin, da diese Vorteile für nachstehende Kriseninterventionen mit sich bringen.
Im Kinderschutz gilt: Für die Sicherheit von Kindern haben grundsätzlich die Eltern bzw. obsorgeberechtigte Erwachsene zu sorgen. Kinderschutzarbeit bedeutet, professionelle Unterstützung dieser Eltern bzw. obsorgeberechtigten Personen zu bieten, um Schutz bei Gefährdungen ihrer Kinder herstellen zu können, im Speziellen bei sexuell motiviertem Missbrauch des Autoritätsverhältnisses, physischer oder psychischer Gewalt und bei Vernachlässigung. Aus diesem Grunde kommt der Prävention eine wichtige Rolle zu.
Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Körper, das Wahrnehmen und Benennen der Gefühle, das Wissen um Grenzen für den eigenen Körper, sind in diesem Zusammenhang wichtige, grundlegende Themen. Je besser Kinder ihre Gefühle dazu erkennen und sprachlich zum Ausdruck bringen können und dürfen, desto eher kann ein Verstehen durch Erwachsene erfolgen. Schutzhandlungen durch Erwachsene können allerdings nur dann wirksam werden, wenn sie sich für das Kind auch hilfreich erweisen. Präventionsarbeit ist dann sinnvoll, wenn Projekte auf mehreren Ebenen ansetzen, das heißt, unter Einbeziehung aller beteiligten Zielgruppen und, vor allem, wenn auch die strategische Schulung der Erwachsenen vorab der Krise beinhaltet ist.
Früher wurden Kinder präventiv geschult, “NEIN“ zur Gewalt zu sagen. Kam es zu weiteren Übergriffen, entstand bei den Kindern ein enormes Schuldgefühl, weil sie dachten, ein lauteres, deutlicheres “Nein“ hätte Gewalt verhindern können. Heute schulen wir die Kinder im Zusammenhang mit Berührungen (mein Körper gehört mir) die unangenehmen Gefühlen wahrzunehmen und das „Nein“ als Signal der Bedrohung zu erkennen.
Ein direkt schützendes Instrument zur Verfügung zu haben, um es gar nicht erst zu einer Gefährdungssituation für Kinder kommen zu lassen, wäre wünschenswert. Aber wenn Kinder aufgefordert werden, sich in Situationen der Ohnmacht mit einem „NEIN“ dem Täter gegenüber „zu stellen“, verlangt man schier unmögliches. Vom „NEIN – Sagen“ (mein Körper gehört mir) inhaltlich abzurücken, um zu einem „Nein“ fühlen (mein Körper gehört mir, jedoch bemächtigt sich jemand meines Körpers) zu kommen, stellt eine wesentliche Veränderung der Präventionsmaßnahmen für unterschiedliche Zielgruppen (Kinder, Eltern, Lehrer) dar. In der Praxis erkennen wir, das Kinder, die Gewalterfahrungen erleben mussten, sich kaum direkt an eine Bezugsperson wenden können, um ihr bedrohliches Problem mitzuteilen. (Luksch, 2012)
Auch andere Personengruppen (z.B. potentielle Ansprechpartnerinnen) werden von den Kindern geschützt. In einer Missbrauchs- oder Gewaltsituation wird Kindern auf verschiedene Arten vermittelt, ihren Gefühlen nicht zu trauen und Erlebnisse und damit verbundene Geheimnisse nicht mitzuteilen.
Um die reflexive Geheimhaltung (vgl. 1.2.1. und 3.3.) der Kinder zu verändern, werden aktuelle Gewaltpräventionsprojekte zum Thema „Geheimnisse“ durchgeführt. Wandelt sich ein reflexives Geheimnis durch hilfreiche Unterstützung mittels Prävention oder Intervention in ein einfaches (vgl. 3.5.) Geheimnis, können bedrohliche Geheimnisinhalte kommuniziert werden.